Statistik und echtes Leben: Shiny Schattenseiten

Ist die Liebe zum Glitzer ein Reflex auf die Angst vor dem Tod? Auf jeden Fall macht Glitzer alles schöner – auch Kriminalstatistik und Mülltrennung.

Ein Besucher lässt sich während des Lollapalooza Festivals im Olympiapark von einer Schaustellerin den Bart mit Glitzer verzieren.

Ein bisschen Glitzer drauf und schon ist alles nur noch halb so schlimm Foto: Gregor Fischer/dpa

Manchmal will ich einfach etwas obendrauf kippen, das das Fiese bestmöglich übertüncht“, sagt die Freundin und blickt grimmig auf die Hafenlandschaft.

„Glitzerstaub!“, ruft der Freund.

„Meinst du das rechte Gelaber über die von Faeser vertonte Kriminalstatistik?“, fragt die andere Freundin.

„Es ist das wirre Grauen. Als hätten Männer von woanders pauschal arglistig Bock, hier in der Warteschleife glühend kriminell durchzudrehen, als wäre das ihr tief sitzender Wille und Lebenssinn.“

„Die Top-Motivation ins durchweg heilige Deutschland zu kommen.“

Eine Frau mit Deutschland-Helm steigt auf ihr Rennrad und brüllt mit sich überschlagender Stimme: „Die sollten sich hier nicht zu wohl fühlen!“ Dann tritt sie ordentlich in die Pedale.

„Würden sich hier alle Menschen wohlfühlen, bräuchtest du dein Rad nicht anschließen!“, ruft der Freund ihr nach.

„Eine Statistik sagt nix als tausend Zahlen“, sagt die Freundin.

„Ton ausschalten oder Glitzer drauf, würd’ aber auch nix besser machen.“

„Wer setzt sich schon differenziert mit dem Zahlenwald auseinander?!“

„Wurde Glitzer nicht schon letzten Winter verboten?“

„Nur der böse Glitzer.“

„Was ist böser Glitzer?“

„Na, der, der die Meere einsaut und die Fische vergiftet.“

„Der, der künstlich gezeugt wurde.“

„Aus Plastik.“

„Es gibt echten, gar biologischen Glitzer?“

„Na klar, siehe die Fische.“

„Bald besteht mein Metallic-Nagellack aus Schuppen?“

Ohne Glitzer ist alles nichts

„Ich dachte immer, des Glitzers Glamour würde darin bestehen, dass alles daran künstlich ist!“

„Nur das Unechte kann wahrhaftig gut sein, alles andere ist zu ambivalent.“

„Ohne Glitzer ist alles nichts.“

„Er mogelt uns Feierlichkeit ins Hirn.“

„Selbst, wenn es nichts zu feiern gibt.“

„Animiert zu Schönheit.“

„Wenn darunter Traurigkeit schwelt.“

„Weckt Wohlwollen und Zuversicht.“

„Wenn alle nur Böses unken.“

„Erhellt und verzückt die Gemüter.“

„Er ist das Gegenteil einer Statistik.“

Das Luxusproblem par ­excellence

„Viele Influencer haben sich vor dem Verbot mit Glitzer eingedeckt.“

„Das ist doch eine schöne Sorge, die Sorge, der Glitzer könnte einmal ausgehen.“

„Ist das jetzt nicht das Luxusproblem par ­excellence?“

„Dafür braucht man auf jeden Fall erst mal Raum.“

„Einen Salon.“

„Und doch ist es ein urmenschliches Thema in verschiedenen Schattierungen.“

„Die Angst vor der Dunkelheit.“

„Dass die Sterne vom Himmel fallen könnten.“

„Die Sonne verglüht.“

„Das Leben vergeht.“

„Ist die Liebe zum Glitzer ein Reflex auf die Angst vor dem Tod?“

„Zumindest vor der Vergänglichkeit.“

„Oder dem Verlust eines guten Lebens.“

„Was ist ein gutes Leben?“

„Eines in Sicherheit.“

„Währenddessen der größte existenzielle Schock im Leben eines Kindes ist, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt.“

„Wurde Lametta eigentlich auch verboten?“

„Ich hab Lametta schon immer gehasst.“

„Wie trist es später zwischen Geflügelknochen im Müll schimmert.“

„Trennt ihr nicht?“

„Ich imaginierte in nostalgischer Versunkenheit den Müll der frühen Achtziger.“

„Und Lametta waren die Ziehfäden eines jeden gediehenen Jahres.“

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Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr neuer Roman Roman „Auf Wiedersehen“ ist im April 2023 im Weissbooks Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.

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