Kontroversen beim Nahost-Konflikt: Solidarität. Ja, aber …

Warum ist Mitgefühl im Nahost-Konflikt so ungleich verteilt? Bei den Debatten spielen vor allem Emotionen eine Rolle, trotz der realen Fakten.

Illustration mit einem jüdischen und einem palästinensischen Symbol.

Was ist mit „From the river to the sea, we demand equality“? Foto: Katja Gendikova

Die einigen Hundert Menschen, die jüngst in der langen Nacht der Museen in Münster in einer Schlange standen, wurden beim Warten abgelenkt: Propalästinensische AktivistInnen hielten ihnen Schilder entgegen, darauf eine halbe Melone in den Farben Schwarz, Weiß und Grün, den palästinensischen Nationalfarben. Die Aktivisten skandierten „Stop the War“ und „Ceasefire“ – so weit, so gut. Doch dann ertönte „From the River to the Sea, Palestine will be free“. Da war es wieder, dieses unangenehme Gefühl, das diesen uralten palästinensischen Demospruch seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober anders klingen lässt. Der Hamas schwebt eine Art judenfreies Palästina vor, der Spruch ist in Deutschland mittlerweile verboten.

Eigentlich gehöre ich zu den „Ja, Aber“-Linken. Eine mit diesem Begriff verunglimpfte Sorte Menschen, die trotz des Terrors durch die Hamas daran erinnern, dass deren furchtbares Massaker eine Vorgeschichte hat. Die Gewalt der Hamas war unverhältnismäßig, ja. Aber: Auch die Gewalt der Israelis in den vorherigen Kriegen in Gaza, ebenso wie im Jetzigen, ist unverhältnismäßig. Dieses „Ja, Aber“ kann ich nicht abstellen.

Im Frühjahr 2023 habe ich einen renommierten Postdoc an der Universität in Jerusalem abgesagt, weil mein israelischer Mann mit Antritt der rechten Regierung nicht mehr nach Israel gehen wollte. Die Berichte über brutale Siedler, über die wachsende Zahl an Palästinensern, die in der Westbank durch die Besatzung sterben, mehrten sich. Mein Mann war sich sicher, dass über kurz oder lang eine Intifada ausbrechen würde, angesichts dieser Aussicht wollte er nicht mit mir und unserer Tochter dort für längere Zeit leben.

Natürlich hatte er nicht mit dem Massaker am 7. Oktober gerechnet. Und ich habe meinen Postdoc nicht im luftleeren Raum abgesagt. Es gab das eskalative israelische Verhalten, das auch die Eskalation auf der anderen Seite befeuert. Und diesem beidseitigen Blick, diesem Ja-Aber, verdanke ich, dass unsere Familie in Berlin heil weiterlebt.

Davon abgesehen, beharren auch diejenigen, die das „Ja, aber“ ablehnen, eigentlich auf einer Vorgeschichte: Ja, der Krieg in Gaza ist brutal, aber die Hamas ist für das Massaker verantwortlich. Kurz, bestimmte Ja-Abers scheinen legitim, andere nicht.

Narrativ der „friedlichen Koexistenz“

Emotionen spielen in den Diskursen eine große Rolle. Auch ich bin empfindlich. Warum gibt es beispielsweise nicht einen Slogan, der Juden und Palästinenser gemeinsam zwischen dem Fluss und dem Meer frei sein lässt? Mittlerweile gibt es Varianten, wie „From the river to the sea, we demand equality“. Wird der wirklich verwendet?

Dabei geht es nicht um das Narrativ von der „friedlichen Koexistenz“, das seit Jahrzehnten die ungleichen Rechte der palästinensischen gegenüber jüdischen Israelis verschleiert. Hierzulande gibt es einen ähnlichen medialen Diskurs. Zwar werden die nüchternen Fakten zum Leid und Sterben in Gaza vermeldet, aber das Mitgefühl bleibt ungleich verteilt. Alle großen Medien und PolitikerInnen beeilten sich nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober mit über 1.200 Toten und hunderten Geiseln, ihre Solidarität und ihr Beileid auszudrücken. Die Rede des Wirtschaftsministers Robert Habeck, mit der er seine Solidarität mit Jüdinnen und Juden in diesem Land bekundete, wurde gefeiert.

Aber welcher Politiker in Deutschland hat öffentlich sein Beileid für die Toten in Gaza bekundet? Kaum jemand fordert von den vielen Israel-Freunden hierzulande, sich vom gewaltvollen Vorgehen der israelischen Regierung zu distanzieren. Von allen, die sich mit Palästina solidarisieren, wird jedoch verlangt, sich von der Hamas zu distanzieren. Mittlerweile gibt es 30-mal mehr Tote in Gaza als auf israelischer Seite, die Zerstörung der Städte und Dörfer ist unvergleichbar. Die maßlose Gewalt der Hamas wurde von der maßlosen Gewalt der israelischen Armee in Gaza überlagert. Wer vor diesem Hintergrund die mangelnde Empathie von Palästinensern beklagt, muss sich selbst mangelndes Mitgefühl vorwerfen lassen.

Und doch, in Momenten wie dem „River“-Spruch, spüre ich die Härte, diese Einseitigkeit, wenn nicht gesehen wird, dass einige Deutsche oder Israelis gegen den Krieg in Gaza sind. Plötzlich habe ich Angst, dass selbst die Progressiven im propalästinensischen Camp kein Zusammenleben mehr wollen. Dass sie die Hamas vielleicht doch gut finden.

Empathielosigkeit und Verallgemeinerung

Sie alle. Mittlerweile rede ich also auch schon so. Dabei weiß ich doch, dass nicht wenige PalästinenserInnen nach dem Massaker am 7. Oktober geschockt waren, dass sie Beileid bekundeten. Sie sind nicht alle so, genauso wie wir nicht alle so sind. Was als Schmerz im Umgang spürbar wird – die Empathielosigkeit und die Verallgemeinerungen seitens palästinensischer gegenüber nichtpalästinensischen oder jüdischen Menschen – ist oft Ausdruck eines viel größeren Leids.

Wohin können sich PalästinenserInnen noch wenden? Deutsche PolitikerInnen nehmen zwar endlich das Wort Waffenstillstand in den Mund. Jedoch umständlich, so wie Bundeskanzler Scholz: Die Palästinenser würden ihren eigenen Hungertod „riskieren“. In Israel plädieren immer noch 80 Prozent der Bevölkerung für eine Weiterführung des Krieges. Dann wieder, fast 70 Prozent der PalästinerInnen unterstützen die Hamas-Aktionen. Unwillkürlich baut sich ein weiteres Gefühl auf: Wir spüren Schmerz und fügen selbst Schmerz zu.

Spätestens jetzt steht der Spruch „From the River to the Sea“ nicht mehr allein da. Ich spüre Gleichzeitigkeiten der Gefühle, Verschiebungen, Überlagerungen. Das erlebe ich auch bei Freunden in Israel. So hatte der Künstler Ronen Eidelman einen Brief initiiert, den tausende israelische KünstlerInnen gegen die fehlende Erwähnung der Hamas-Verbrechen in einem vorherigen Brief von internationalen Künstlern im Oktober 2023 unterschrieben hatten. Auch deutsche Medien hatten darüber berichtet.

Im Februar 2024, vier Monate später, war Eidelman kurz in Berlin. Mittlerweile hat Judith Butler klar gemacht, dass die Hamas-Taten in ihr Grauen auslösen. Mittlerweile ist Gaza in großen Teilen zerstört. Eidelman sagt rückblickend: „Ich stehe zu jedem Wort, was ich in dem Brief geschrieben habe. Aber ich weiß auch, heute würde ich diesen Brief nicht mehr schreiben.“

Höhere Todeszahlen in Gaza, anhaltender Terror

Was mir Eidelman einst im Vertrauen sagte, darf ich jetzt veröffentlichen. Auch bei ihm haben sich die Gefühle verschoben oder überlagert. Gefühle sind nichts Statisches. Ja, da ist das Sicherheitsbedürfnis der Israelis nach der Hamas-Attacke, da ist das Bedürfnis, die Täter bestraft zu sehen. Aber, da ist auch die Schuld angesichts der massiven zivilen Verluste durch diesen Krieg, das Wissen, dass auch dieser Krieg kaum mehr als Zerstörung bringt – und nicht die Zerstörung der Hamas.

Da sind die viel höheren Todeszahlen in Gaza, der anhaltende Terror. Dann wieder gibt es die traumatischen Erinnerungen an die Pogrome, den Holocaust. Eigentlich müssten wir alle, im Herzen gebrochen, ein Ende der Gewalt fordern. Warum ist das nicht so?

Zu den emotionalen Frames, in denen wir über den Krieg in Nahost sprechen, fügt sich der stete Verweis auf die Empathielosigkeit der Palästinenser ein wenig zu gut. Eine Szene in Ramallah wurde im taz-Podcast beschrieben: In einem Restaurant hätten Palästinenser nach der Al-Jazeera-Übertragung über israelische Geiseln einfach weiter gegessen.

Dagegen steht das israelische Fernsehen: Dort fragt niemand mehr nach den zivilen Opfern in Gaza. Eine solche Frage hatte schon im letzten Gaza-Krieg eine Fernsehmoderatorin ihren Job gekostet. Der Verweis auf die angeblichen Fehler der israelkritischen Camps wird immer vehementer. So wurde den Preisträgern des Dokumentarfilms „No Other Land“ der diesjährigen Berlinale vorgeworfen, sie hätten die Massaker der Hamas nicht genannt und einseitig ihre Palästinasolidarität bekundet. Eigentlich haben sie einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza gefordert. Immer wieder reden wir durch den Verweis nur über die Unsensibilität der Sprechenden und nicht über einen Waffenstillstand.

Krieg mit Gefühlen

Deshalb steht mit der Wiederholung solcher Verweise medial eine Art emotionaler Konditionierung im Raum. Die psychologische Analyse der Massenmedien der Philosophen Max Horkheimer und Theodor Adorno hat eine mediale Konditionierung und Regulierung der Affekte bereits ausführlich belegt. Während im israelischen Fernsehen die Geschichten der Opfer vom Hamas-Massaker, die Geschichten der Geiseln in Gaza, nahezu in Dauerschleife, erzählt werden, kann der Krieg in Gaza weitergehen. In Deutschland wird die deutsche Schuld im Holocaust durch Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson übersetzt, Waffenlieferungen erscheinen alternativlos. Das ist kein Spiel mit Emotionen, das ist ein Krieg mit Gefühlen.

Deswegen habe ich nicht nur ein Unbehagen bei den „River“-Sprüchen, sondern auch bei den Verweisen darauf. Ja, unter Palästinensern gibt es Antisemitismus, ja, in den palästinensischen Territorien leben nicht nur gute Menschen. Viele sagen, dass ihnen der Krieg in Gaza klein und gerechtfertigt erscheint, wenn sie vom Massaker der Hamas hören. Wenn dieselben Menschen vom Krieg in Gaza hören, erscheint ihnen dagegen das Hamas-Massaker klein. Wir sind alle zerrissen. Vielleicht geht nicht beides gleichzeitig.

Die fehlende Empathie der in Deutschland weitaus weniger repräsentierten PalästinenserInnen jedoch betonen zu wollen, dient der Fortführung des Krieges – und zeigt nur unsere schlechte Seite. Am Ende werden bestimmt viele Ja-Aber-Linke gewesen sein wollen. Aber dann müsste schon längst, auch auf Seite 1 dieser Zeitung, stehen: Waffenstillstand, sofort.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Charlotte Misselwitz ist in Ost-Berlin aufgewachsen. Ihre Magisterarbeit „Die ostdeutsche Identität treibt um“ wurde im Stekowicz-Verlag veröffentlicht. Seitdem behandelt sie immer wieder ostdeutsche Themen in Radio und Print. Zudem promoviert sie an den Universitäten Essen und Tel Aviv.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.